Je
nach Statistik sollen bis zu 90 Prozent aller Alzheimer-Patienten mehr
oder weniger intensiv unter depressiven Verstimmungen leiden. Im
Mittel finden sich bei etwa 40 Prozent von ihnen depressive Symptome.
Depressive Störungen sind nicht nur wichtige Differentialdiagnosen
der Demenz, im Gegensatz zur letztgenannten sind sie meist besser zu
beeinflussen. Vor diesem Hintergrund nutzte Demenz-Spektrum (DS) die
Gelegenheit, einen anerkannten Experten um Handlungsrichtlinien zu
bitten. Dr. Martin Haupt ist Demenz-Spezialist und befaßt sich
intensiv mit dem Zusammenspiel von Depression und Demenz.
DS:
Herr Dr. Haupt, welche
Bedeutung haben depressive Störungen bei Alzheimer-Kranken?
Dr.
Haupt: Die Wissenschaft hat
sich bislang vor allem mit den kognitiven Einbußen im Rahmen einer
Alzheimer-Demenz befaßt und affektive Gesichtspunkte eher
vernachlässigt. So kommt es, daß man auch in der Praxis depressiven
Verstimmungen Dementer nicht immer in dem Maße Rechnung trägt, wie
es ihrer Bedeutung für das gesamte Erscheinungsbild der Erkrankung
entsprechen würde. Immerhin finden sich bei rund 40 Prozent aller
Alzheimer-Patienten depressive Symptome. Diese sprechen oft gut auf
therapeutische Maßnahmen an und erlauben dann eine Diagnose ex
iuvantibus.
DS:
Wie entstehen depressive
Störungen bei Alzheimer-Kranken?
Dr.
Haupt: In aller Regel sind sie
die Folge eines komplexen Zusammenspiels organischer und
nichtorganischer Faktoren. So findet man bei depressiven
Alzheimer-Kranken im Vergleich zu nichtdepressiven vermehrt
degenerative Veränderungen im Locus coeruleus, im dorsalen Raphekern
und in der Substantia nigra. Einen weiteren Beitrag leistet vermutlich
auch ein Mißverhältnis zwischen untergegangenen Neuronen im Locus
coeruleus einerseits und relativ intakten Nervenzellen und Funktionen
im cholinergen Ursprungsgebiet andererseits. Psychologisch kann jeder
Gesunde sehr gut nachvollziehen, daß auch das Erleben von
Hilflosigkeit, Sprachverlust, Mißverständnissen, Ärger von
Bezugspersonen, Verlassenheit und Beschämung depressive
Verstimmungszustände begünstigt.
DS:
Durch welche Verlaufsbesonderheiten zeichnen sich Depressionen bei
Alzheimer-Patienten aus?
Dr.
Haupt: Ausgeprägte und länger
anhaltende depressive Verstimmungen sind bei Alzheimer-Kranken eher
selten. Dies gilt sowohl für die Major Depression, die in etwa 15
Prozent der Fälle vorliegt und meist rasch abklingt, als auch für
die mitunter nur Minuten oder nur wenige Stunden anhaltenden
Verstimmungszustände. Letztere lassen sich diagnostisch auch als
„Anpassungsstörungen mit depressivem Erscheinungsbild“
beschreiben. Häufigkeit und Ausprägung depressiver Verstimmungen
scheinen mit fortschreitendem Schweregrad der Demenz abzunehmen, was
aber nicht unbestritten ist. Ich warne davor anzunehmen, daß
Patienten mit einer fortgeschrittenen Demenz unfähig zu affektiven
Reaktionen seien, wie immer wieder behauptet wird. Auch in sehr
fortgeschrittenen Stadien empfinden Demente Verzweiflung,
Hoffnungslosigkeit und Ratlosigkeit. Darauf reagieren sie genau so
„depressiv“ wie andere Menschen auch. Hinzuzufügen ist noch, daß
das frühe Auftreten depressiver Verstimmungen bei Alzheimer-Kranken
keinen Einfluß auf die im Krankheitsverlauf bestehende Progredienz
ausübt.
Kurze,
aber dennoch quälende Verläufe
DS:
Worauf ist diagnostisch besonders zu achten?
Dr.
Haupt:
Es ist wichtig,
·
depressive Störungen bei Demenz-Kranken überhaupt zu
bemerken,
·
differentialdiagnostisch zwischen Demenz und Depression zu
unterscheiden und
·
sekundär zur Demenz hinzutretende depressive Störungen zu
erkennen.
Einige Symptome sind
der Depression und der Demenz gemeinsam, wie etwa Antriebs-, Schlaf-
und Appetitstörungen. Diagnostische Anhaltspunkte liefern dann die
Kernsymptome der Depression, bei deren Vorliegen eine spezielle
Behandlung angezeigt ist. Hinweise für eine Depression sind etwa eine
affektive Erkrankung in der Vorgeschichte, ein relativ plötzlicher
Beginn, ausgeprägte und anhaltende depressive Verstimmungen sowie die
Aussage von Bezugspersonen, daß sie kognitive Störungen nicht im
Vordergrund des Krankheitsbildes im Alltag sähen.
Im Zusammenhang mit
körperlichen Erkrankungen, die sekundär zur Demenz hinzutreten, sind
vor allem die Schilddrüsenunterfunktion, die Hepatitis sowie Lungen-
und Bauchspeicheldrüsenkarzinome zu nennen. Darüber hinaus können
Digitalispräparate und einige Bluthochdruckmedikamente depressive
Störungen auslösen. Auch bei Verhaltensproblemen verabreichte
Beruhigungsmittel können fälschlicherweise den Eindruck vermitteln,
der Alzheimerkranke sei depressiv verstimmt.
DS:
Welche Maßnahmen haben sich bewährt, um depressive Verstimmungen bei
Demenz-Patienten zu bessern?
Dr.
Haupt: Vor allem gilt es, die
Patienten und deren Familie zu unterstützen, um den Kranken
möglichst lang im häuslichen Umfeld versorgen zu können. Dabei
stehen psychotherapeutische Maßnahmen im Vordergrund, die den Kranken
darin unterstützen, seine vorhandenen Fähigkeiten weiterhin
wahrzunehmen, ihm Mut machen und das Gefühl vermitteln, weiterhin
nützlich zu sein und gebraucht zu werden. Antidepressiva sind nur
dann angezeigt, wenn die depressiven Störungen ausgeprägt sind und
bereits mehrere Tage anhalten. Dann sind neuere Antidepressiva zu
bevorzugen und darauf zu achten, daß diese nicht mit anderen
Arzneimitteln der meist multimorbiden Kranken ungünstig interagieren.
DS:
Dr. Haupt, vielen Dank für Ihre Hinweise.