von
Dr. med. Jens Bruder, Leiter der ärztlichen Abteilung des
Landesbetriebes pflegen & wohnen (Hamburg), langjähriges
Vorstandsmitglied der Deutschen geriatrisch-gerontologischen
Fachgesellschaften und der Alzheimer Gesellschaft
Die folgenden
„Regeln“ haben sich im Umgang mit Dementen bewährt. Sie beziehen
sich vor allem auf frühe Krankheitsstadien und tragen dazu bei, Abhängigkeiten
und emotionale Belastungen zu verringern.
(1) Risikoabwägung: Betreuer
müssen einen vernünftigen Kompromiß zwischen zwei schwer zu
vereinbarenden Bestrebungen finden: dem Wunsch nach der beruhigenden
Gewißheit, dem Kranken ein Maximum an Sicherheit zu bieten, und der
Aussicht, es genießen zu können, wenn man den Kranken gewähren läßt.
Leben ist jedoch immer mit Risiko verbunden, besonders wenn man einem
dementen alten Menschen noch eigene Erlebens- und Aktivitätsräume
erhalten will (etwa selbständige Spaziergänge außerhalb des
Hauses).
(2) Einfachheit und Verständlichkeit:
Die Umwelt des Dementen muß einfach, überschaubar und unkompliziert
sein. Dazu gehören eindeutige Mitteilungen, kurze Sätze, Verzicht
auf abstrakte Begriffe, „wenn-dann“-Sätze und Häufungen von
Eigenschaftswörtern. Die räumliche Umgebung ist überschaubar und
offen sowie frei von unnötig verwirrenden und widersprüchlichen
Reizen zu gestalten. So scheinen verschlossene Behälter und Schränke
viele Demenz-Kranke zu beunruhigen bzw. zu motivieren, an ihnen
herumzurütteln.
(3) Konstanz: Diese Forderung
bezieht sich gleichermaßen auf Bezugspersonen, räumliche Umgebungen
und Zeitstrukturen.
(4) Gleichzeitigkeit von Sprache,
Berührung und Blick: Begleitende Berührungen und Blicke fördern
das sprachliche Verständnis des Dementen, vermitteln das Erlebnis von
Nähe und fördern die Speicherung von Information.
(5) Keine Verbote:
Demenz-Kranke stoßen ständig an Grenzen und Zurückweisungen. Diese
Erlebnisse kränken und sind aufgrund der kognitiven Beeinträchtigungen
nur schwer zu verarbeiten. Man hilft den Kranken, wenn man an die
Stelle eines nicht erfüllbaren Wunsches weitere Vorschläge rückt,
zwischen denen der Demente wählen kann. Wahlmöglichkeiten, die sich
vielleicht sprachlich stärker voneinander unterscheiden als ihrem
Inhalt nach, vermitteln u.U. kleine Erlebnisse von Freiheit und helfen
so über das zunächst geäußerte „nein“ hinweg. Auch hier ist
viel Phantasie gefordert.
(6) Ablenkung: Das Prinzip
des sanften Umlenkens ist bei störenden, gefährlichen und deshalb
unausführbaren Impulsen angezeigt.
(7) Körperliche Begegnung:
Hier gilt es, sich der archaischen Bedeutung körperlicher Gesten
und Handlungen zu besinnen und die Kunst ihrer angemessenen
Variation zu erlernen. So kann es für einen Demenz-Kranken vor
pflegerischen Handlungen sehr beängstigend sein, wenn „im Block“
zwei Gestalten frontal auf ihn zu marschieren. Die Situation entspannt
sich für ihn möglicherweise schon dadurch, daß die beiden Abstand
halten und nach Ankündigung nacheinander von der Seite und deutlich
erkennbar an ihn herantreten.
(8) Mut zum Streit: Kleine
Auseinandersetzungen zwischen
Demenz-Kranken sind nicht per se gefährlich. In ihnen drückt sich
die Lebendigkeit der Streitenden aus und eröffnet sich eine Möglichkeit,
Empfindungen zu intensivieren
(9) Fixierungen sollten die
Ausnahme bleiben. Sie sind genauestens zu dokumentieren. Ihre
Notwendigkeit ist mindestens einmal täglich zu überprüfen. Die
Entwicklung und Vermittlung präziser Regeln zur Fixierung ist
dringend zu empfehlen.
(10) Strukturieren, Aktivieren
und Trainieren: In diesem Zusammenhang geht es darum, den Tag mit
Hilfe von Gruppenangeboten zu strukturieren. Sie sollen die Kranken
dazu anregen, Tätigkeiten erneut oder weiterhin auszuüben, die ihnen
aus der eigenen Lebensgeschichte vertraut sind. Die Tätigkeiten müssen
variiert werden. Sie sollten sich in die alltägliche Selbstversorgung
einfügen (Essensvorbereitung, Kochen, Abwaschen, Näharbeiten,
einfache handwerkliche Verrichtungen). Beim Aktivieren geht es darum,
Fremdantrieb in Eigenantrieb umzuwandeln und mit Widerständen des
Kranken angemessen umzugehen. Dabei muß der Betreuer aus seiner
Kenntnis des Dementen heraus gegebenenfalls dessen verloren gegangenen
vernünftigen Willen zur Aktivierung ersetzen. Je sicherer sich der
Betreuer ist, desto müheloser wird er den Kranken in das jeweilige
Vorhaben einbeziehen können. Das „Trainieren“ schließlich zielt
auf Übungen ab, welche die Hirnleistung verbessern. Die Ziele sind
eine raschere und sicherere Aufnahme und Verarbeitung von
Informationen, die Steigerung von Konzentration und Aufmerksamkeit,
Erwerb von Wissen und Alltagskenntnissen sowie die Entwicklung von
Routinen.
Quelle:
J. Bruder in Funkkolleg „Altern“, Studienbrief 3,
Studieneinheit 8: Vergessen und Traurigkeit. Psychische Veränderungen
im Alter/1996