Die
heutige Ausgabe greift erneut auf eine Vielzahl von Quellen zurück.
Aus Platzgründen verzichten wir wiederum auf Literaturangaben und
bitten die "Erfinder" der jeweiligen Tips um Verständnis.
Sich
auf den Kranken einlassen
In die Welt des Patienten einsteigen: Mitunter hilft man dem
Demenz-Kranken mehr, wenn man ihn nicht ständig über die Realität
belehrt, sondern ihm das Gefühl vermittelt, in seiner Welt verstanden
und begleitet zu werden. Dazu kann es nötig sein, in seine Welt
einzusteigen, "Umlenkungsstrategien" zu entwickeln und bewußt
auf Wahrheit zu verzichten. Betrachten Sie wirklichkeitsfremde Äußerungen
des Kranken als Vorschlag für ein Gesprächsthema oder als Anregung
zu passenden Aktivitäten. Folgendes Wort von Max Frisch ermuntert zur
Toleranz: "Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel
hinhalten, so daß er hineinschlüpfen kann, und ihn nicht wie einen
nassen Fetzen um die Ohren schlagen."
Andeutungen des Kranken dechiffrieren: Wenn sich ein Kranker in die
Vergangenheit zurückzieht, wählt er oft Zeiten, in denen er sich
besonders geborgen oder anerkannt fühlte ("Meine Mutter kommt
gleich" "Ich muß zur Arbeit, meine Mitarbeiter warten auf
mich.") Manche Demenz-Kranke führen ihre geistigen
Schwierigkeiten auf eine Störung von Körperfunktionen zurück
("Ich weiß ja, ich bin dumm, aber ich habe schließlich einen
Herzfehler"). Dadurch versuchen sie, ihr Selbstwertgefühl zu
erhalten und eventuell sogar die Zuwendung der Umgebung zu erhalten. Körperliche
Gebrechlichkeit gehört schließlich zu den allgemeinen Vorstellungen
vom Alter und ist letztlich erträglicher als die Vorstellung
geistigen Abbaus. Es kommt hinzu, daß Demenz-Kranke oft Gefühle
nicht angemessen verarbeiten können und diese dann unmittelbar als körperliche
Störung erleben.
Verborgene Wünsche erkennen, ansprechen und befriedigen: Ermitteln
Sie die hinter Fehlleistungen verborgenen
Wünsche, zum Beispiel nach Geborgenheit und Bestätigung. Indem Sie
solche Wünsche ansprechen, bringen Sie dem Kranken mit sich selbst in
Kontakt. Scheuen Sie sich nicht, "frühkindliche" Wünsche
des Kranken zu befriedigen. Befriedigungserlebnisse verbessern häufig
Aufmerksamkeit und Orientierungsvermögen. Fordern Sie den Kranken
auf, seine Bedürfnisse und Gefühle frei zu äußern. Ältere
Menschen schrecken generell davor zurück, um etwas für sich zu
bitten. Sie haben das Gefühl, daß sie dankbar für ihre jetzige
Versorgung sein müssen. Sie vermuten, daß ihre Betreuer unter großem
Zeitdruck stehen, für "belanglosere" Gespräche nicht offen
sind und sich möglicherweise nur unnötige Sorgen machen würden.
Deshalb denken viele ältere Menschen auch alleine über den Tod nach.
Wahnideen als Reaktion auf Verlust interpretieren: Betrachten Sie
Wahnideen des Kranken als Kompensation eines Verlustes. Wer Stimmen hört,
muß sich nicht eingestehen, daß er sich allein und verlassen fühlt.
Statt den Wahn rigoros zu bekämpfen (etwa medikamentös), kann es
sinnvoller sein, die auslösenden Bedürfnisse zu befriedigen (z.B.
bei Einsamkeit Kontakt herzustellen). Wahnideen können auch ein
beeinträchtigtes Selbstwertgefühl stützen oder das Vermeiden von
Konflikten ermöglichen. Wer nicht mehr über sein Vermögen verfügt
und sich machtlos fühlt, kann sich z.B. mit der Vorstellung trösten,
er sei beraubt worden. Sprechen Sie unbedingt mit allen anderen
Betreuer ab, wie sie gegebenenfalls einheitlich auf Wahnideen des
Demenz-Kranken reagieren wollen.
Verwirrtheit
als „Suche nach Halt“ verstehen: Viele Verhaltensweisen
dementer Menschen werden verständlicher, wenn man sie als „Suche
nach Halt“ bzw. als Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit
versteht. Aus dieser Perspektive kann es zum Beispiel sinnvoll
erscheinen, räumliche Nähe und Körperkontakt zum Patienten
herzustellen. Wachsende Unruhe des Kranken läßt sich als Ausdruck
seiner Einsamkeitsgefühle und als Kontaktwunsch interpretieren. Auch
der Ruf der alten Menschen nach ihren Eltern wird verständlich, weil
zu diesen Personen meist eine besonders enge Halt und Sicherheit
gebende Bindung bestand. Umgekehrt überrascht es nicht, daß sich
manche Demenz.-Kranke wieder an den Tod der eigenen Eltern erinnern
und deshalb die Suche nach ihnen einstellen, sobald sie die Nähe zu
einem Betreuer spüren (sich „versorgt“, „beruhigt“, „getröstet“,
„gewärmt“ fühlen). Selbst das stundenlange Festhalten und
Rumschleppen von Handtaschen, zerknüllten Taschentüchern und anderen
Gegenständen macht als Form der „Haltsuche“ Sinn. Wer im
Weglaufen („Ich will nach Hause“) die Botschaft „Ich fühle mich
hier nicht zu Hause“ entschlüsselt, kann neue Wege entwickeln, ein
solches Verhalten möglicherweise verzichtbar zu machen.
Religiösen Glauben einbeziehen: Viele alte Menschen haben ihr Leben
bewältigt, weil sie aus ihrer Religion Kraft geschöpft haben. Nicht
selten haben dabei spezielle Bibelsprüche, Psalme oder ähnliches
eine wichtige Rolle gespielt. Es ist sinnvoll, dies aus der Biographie
des Kranken in Erfahrung zu bringen. Religiöse Worte mit
individueller Bedeutung haben schon manchen Demenz-Kranken
eindrucksvoll beruhigt.
Sich in Hilflosigkeit einfühlen: Zugegeben, es ist kein einfacher
Vorschlag. Aber warum sollten Sie sich nicht einmal von einem Freund
oder einer Freundin waschen, füttern und anziehen, ja vielleicht
sogar auf die Toilette bringen lassen? Sofern sich Ihnen bereits bei
der bloßen Vorstellung die Haare sträuben, werden Sie vielleicht
nachempfinden können, wie sich ein hilfloser Demenz-Kranker fühlen
muß.
Nesteln, Reiben und Kratzen als Notruf betrachten: Die meist
monotone und häufig schädigende Selbststimulation läßt sich als
Hilfeschrei von Menschen verstehen, die unter einem Mangel an
sinnlichen Anregungen leiden. Um Informationen über den eigenen Körper
und die Umwelt zu erhalten, schreiten sie gleichsam zur Selbsthilfe,
indem sie mit den Fingernägeln auf Haut oder Tisch kratzen, mit der
Bettdecke nesteln oder mit dem Oberkörper schaukeln. Vor allem wer im
Bett liegt und sich kaum noch bewegen kann, leidet unter
Reizverarmung. Mögliche Abhilfen sind: Wiegen des Kranken im Arm,
variierender Druck mit der Hand bei der Körperpflege, Benutzung
verschieden harter Waschlappen, Schwämme und Handtücher, gut
sitzende Kleidung, Fördern von Lutsch- und Schluckbewegungen durch
harte Brotrinden, Bratenkruste oder Kaugummi, Körperpflege mit
Parfum, Anregung des Geruchssinnes durch Blumen ätherische Öle und
Essensdüfte. Da alle Menschen zum Leben Stimulation brauchen,
stimulieren sich Demenz-Kranke auch mit Hilfe ihrer Erinnerung selbst.
Nicht alles dem schlechten Gedächtnis anlasten: Junge Menschen
entschuldigen ihre Vergeßlichkeit auf unterschiedliche Weise.
Beispiele: Ich hatte zuviel zu tun. Ich bekam zu viele Informationen
gleichzeitig. Ich war mit den Gedanken bei etwas anderem. Ich wurde
abgelenkt. Es ist zu lange her. Es interessierte mich nicht. Ich
war furchtbar müde. Warum sollten solche Zusammenhänge für Demente
nicht auch gelten?
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