In einfühlsamer Weise
und mit Hilfe bildhafter Vergleiche entwickelt B. Miesen neue Sichtweisen
für den Umgang mit Demenz-Kranken. Im Vordergrund steht eine Theorie des
Gedächtnisses mit folgenden Annahmen:
1.
Alle Faktoren, die bei Gesunden das Wahrnehmen, Speichern und
Wiedergeben von Informationen beeinträchtigen können, kommen beim (gestörten)
Gedächtnis dementer Menschen zum Tragen.
2.
Das menschliche Gedächtnis speichert im Lauf der Jahre immer
weniger neue Wahrnehmungen.
3.
Mit höherem Alter nimmt die Zahl der bereits gespeicherten
Wahrnehmungen wieder ab.
4.
Je älter jemand ist, desto weniger Informationen nimmt er
gleichzeitig wahr und speichert er.
5.
Der Prozeß der Wahrnehmung („Eindruck“), Speicherung
(„Abdruck“) und Wiedergabe („Ausdruck“) läßt sich günstig
beeinflussen, wenn verschiedene Sinnesorgane gleichzeitig angesprochen
werden.
6.
Die Wiedererkennung gespeicherter Wahrnehmungen ist leichter als
ihre Wiedergabe.
7.
Die beschriebenen Vorgänge verlaufen bei jedem Sinnesorgan anders.
Mit
allen Sinnen arbeiten
Vor dem Hintergrund
dieser Annahmen lassen sich nützliche Schlußfolgerungen ableiten.
Beispiele:
*
Junge Menschen entschuldigen ihre Vergeßlichkeit auf
unterschiedliche Weise. Vermutlich gelten die gleichen Erklärungen auch für
Demenz-Kranke (etwa: Ich hatte zuviel zu tun. Ich bekam zu wenige
Informationen oder zu viele Informationen gleichzeitig. Ich war mit den
Gedanken bei etwas anderem. Ich wurde abgelenkt. Es ist zu lange her. Es
interessierte mich nicht. Es kam etwas Unvorhergesehenes dazwischen. Es
machte mir keinen Spaß. Es interessierte mich nicht. Ich war zu
aufgeregt. Ich war in Eile. Ich war unkonzentriert. Ich war furchtbar müde.
Ich konnte mir keinen Reim daraus machen.)
*
Die Schwierigkeit, neue Informationen zu speichern, beinhaltet auch
Vorteile: So vergessen Demenz-Kranke vermutlich unangenehme Reize, sobald
diese aus dem Wahrnehmungsbereich verschwinden.
*
Dasjenige, worüber man mit dem Demenz-Kranken spricht, sollte während
der ganzen Unterhaltung immer sinnlich wahrnehmbar bleiben („Siehst Du
die weiße Wolke da oben?“ und nicht: „Hast Du vorhin die Wolke
gesehen?“). Auch der Betreuer sollte möglichst immer im
Wahrnehmungsfeld bleiben und beispielsweise dem von hinten geschobenen
Rollstuhlfahrer eine Hand auf die Schulter legen und ihn wiederholt darauf
hinweisen, daß man hinter ihm hergeht.
*
Die folgende Abbildung zeigt ein Modell des Vergessens. Sie
veranschaulicht, wieso sich Demenz-Kranke irgendwann an die letzten Jahre
ihres Lebens nicht mehr erinnern können. Gleichzeitig verdeutlicht sie,
warum es sinnvoll ist, sich mit Demenz-Patienten vor allem über frühere
Zeiten zu unterhalten, und warum die Kenntnis ihres Lebenslaufes so
wichtig ist.

*
Die eingeschränkte Informationskapazität macht es notwendig, „möglichst
viel mit möglichst wenig Worten zu sagen“. Meist behält der
Demenz-Kranke nur die letzten Worte.
*
Es ist hilfreich, eine Information über möglichst viele
Sinnesorgane gleichzeitig zu transportieren. Statt nur an den
Toilettengang zu erinnern, kann man dem Patienten zusätzlich die WC-Tür
öffnen, so daß er die Toilette sieht und riecht, und ihm beim Öffnen
der Kleidung unterstützen. Vermutlich versteht der Betreffende dann eher,
was man von ihm erwartet. Aus diesem Grund fördern Gebärden das Verständnis
des Gesprochenen.
*
Der Unterschied zwischen aktivem und passivem Wissen ist jedem
vertraut: Man benutzt beim Sprechen weitaus weniger Worte als man versteht
(und beispielsweise beim Lesen „wiedererkennt“).Deshalb ist es
mitunter ergiebiger, wenn der Demenz-Kranke etwas wiedererkennen kann und
er nicht etwas wissen, also aktiv reproduzieren, muß. Die Frage „Was
hast Du gegessen?“ führt möglicherweise weniger rasch zum Ziel als die
Frage „Hast Du gestern Suppe oder Brei gegessen?“.
*
Das Erinnerungsvermögen an frühere Informationen hängt davon ab,
mit welchem Sinnesorgan sie aufgenommen wurden. So können demente
Personen im allgemeinen besser ausdrücken oder wiedergeben, was sie
betastet und gerochen haben, als was sie gesehen und gehört haben. Es ist
deshalb manchmal erfolgreicher zu fragen, was der Patient gegessen hat,
und nicht, wer mit ihm während der Mahlzeit am Tisch gesessen hat. Ein
dementer Patient wird möglicherweise am Mittagstisch bereitwilliger Platz
nehmen, wenn dieser schon sichtbar gedeckt ist, erstes Besteckklappern zu
hören ist und der Essensduft bereits den Raum erfüllt.
*
Frühere Wahrnehmungen werden in einer Situation umso eher
wiedergegeben, je mehr sie derjenigen Situation ähnelt, in der die
Wahrnehmung erstmalig stattfand. Dies mag erklären, warum sich Gedächtnisleistungen
nach einem Umzug verschlechtern und warum die Gestaltung eines Heimplatzes
mit eigenen Möbeln auch für die Erinnerungsfähigkeit (nicht nur das
Wohlbefinden) nützlich ist.
Verwirrtheit
als „Suche nach Halt“
Neben seiner Gedächtnistheorie
und den daraus abzuleitenden Schlußfolgerungen entwickelt Miesen einen
weiteren nützlichen Denksatz. Es handelt sich um die Vorstellung, daß
sich viele Verhaltensweisen dementer Menschen als Folgen ihrer „Suche
nach Halt“ bzw. ihres gesteigerten Bedürfnisses nach Sicherheit und
Geborgenheit verstehen lassen. Aus dieser Perspektive kann es zum Beispiel
sinnvoll erscheinen, auf räumliche Nähe und Körperkontakt zum Patienten
zu achten. Wachsende Unruhe des Kranken läßt sich als Ausdruck ihrer
Einsamkeitsgefühle und als Kontaktwunsch interpretieren. Auch der Ruf der
alten Menschen nach ihren Eltern wird verständlich, weil zu diesen
Personen meist eine besonders enge Halt und Sicherheit gebende Bindung
bestand. Umgekehrt überrascht es nicht, daß sich manche Demenz.-Kranke
wieder an den Tod der eigenen Eltern erinnern und die Suche nach ihnen
einstellen, sobald sie die Nähe zu einem Betreuer spüren (sich
„versorgt“, „beruhigt“, „getröstet“, „gewärmt“ fühlen).
Selbst das stundenlange Festhalten und Rumschleppen von Handtaschen, zerknüllten
Taschentüchern und anderen Gegenständen macht als Form der
„Haltsuche“ plötzlich Sinn. Wer im Weglaufen („Ich will nach
Hause“) die Botschaft „Ich fühle mich hier nicht zu Hause“ entschlüsselt,
kann neue Wege entwickeln, ein solches Verhalten möglicherweise
verzichtbar zu machen.
Warum
Demenz-Kranke sich „normal“ verhalten
Nicht zuletzt ermuntert
Miesen noch zu einem entlastenden Perspektivwechsel: Was spricht dafür,
das Verhalten Demenz-Kranker als anormal in einer normalen Situation zu
beschreiben? Angesichts der Schwierigkeiten, denen diese Personen aufgrund
ihrer Gedächtnisschwierigkeiten und der oft dramatisch veränderten
Lebensbedingungen ausgesetzt sind, kann man mit gleichem Recht sagen, daß
sie sich in einer äußerst „unnormalen“ Situation ziemlich normal
verhalten. Letztlich verhalten sich demente Menschen nämlich nicht
wesentlich anders, als „gesunde“ Menschen dies in merkwürdigen,
fremden und bedrohlichen Situationen und in Augenblicken der Unsicherheit
ebenfalls tun: Vor allem suchen sie die Nähe eines anderen.
B.
Miesen: „So blöd bin ich noch lange nicht!“ Was in geistig verwirrten
älteren Menschen vorgeht. Information und Hilfe für Angehörige, Freunde
und Pflegende. TRIAS Thieme-Hippokrates-Enke. Stuttgart 1996. 144 Seiten.
DM 29,80
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